Project Description
Unsa Haus und andere Geschichten
„Und wer weiß, was sie selbst anstellen würde. In diesem Haus war Platz für Vieles, und vielleicht würde sie sich nie für eine einzige Sache entscheiden.“ (S. 13)
Alex, Dani, Fatma, Fredi und Liam sind 5 Freund_Innen und die Protagonist_Innen der Erzählung „Unsa Haus und andere Geschichten“ von Ben Böttger, Rita Macedo u.a. Die Kinder entdecken gemeinsam ein leerstehendes Haus, füllen es mit ihren Zukunftswünschen und erzählen den Leser_Innen aus ihrem Alltag, der sich vor allem dadurch kennzeichnen lässt, dass er abseits eines mehrheitsdeutschen, weißen, heteronormativen und/oder „gesunden“ Mittelklasse-Topos stattfindet, der sonst meist den Erzählungen in Kinderbüchern zugrunde liegt. „Unsa Haus“ ist ein Kinderbuch, das auf verschiedenen Ebenen Herkömmliches umgeht und Realitäten neben dem schon zigfach Beschriebenen schafft. Es ist ein Buch, auf das wahrscheinlich einige Elter_n, deren Freude an den normativen Erzählungen in vielen Kinderbüchern in der Tendenz eher sinkend ist, sehnsüchtig gewartet haben. Ich erinnere mich an meine eigene Begeisterung, als ich von dem Buch hörte und an die Spannung, mit der ich es das erste Mal gelesen und dann auch vorgelesen habe. „Unsa Haus“ hat mich gefreut, überrascht, aber auch unbefriedigt zurückgelassen und verärgert, alles auf wenigen Seiten, die es wert sind, hier etwas genauer angeschaut zu werden.
Utopien umsetzen
Über den Inhalt hinaus ist „Unsa Haus“ ein utopisches Projekt, in dem verschiedene gesellschaftskritische und potenziell -verändernde Überlegungen umgesetzt wurden. Bei den Autor_Innen entwickelte sich der Plan, die fehlende nichtnormative Kinderliteratur einfach selbst zu schreiben, beim Umdenken und Weiterspinnen gegebener normativer Literatur. Das hinter dem Buch stehende Team eignete sich Teile der notwendigen Arbeitsprozesse in der Entstehung selbst an; ein Wiederholen emanzipatorischer Praxen marginalisierter Bewegungen und gleichzeitig ein Verweis auf die Weigerung vieler professioneller Verlage, Geschichten abseits der Norm zugänglich zu machen. Das parallel zu „Unsa Haus“ gegründete Anti-Discrimination Future Project hinterlegt das Buch mit einem Konzept zu nichtnormativer Kinderliteratur und verfolgt auch in der Veröffentlichungspolitik progressive Wege. So wird „Unsa Haus“ in inzwischen fünf Sprachen unter einer Creative Commons Lizenz zum freien Download angeboten. Eine zweite überarbeitete deutschsprachige Auflage ist als Softcover beim NoNo Verlag erschienen, dessen Gründung ebenfalls aus der Arbeit am Buch erfolgte und der sich der Veröffentlichung nichtnormativer Literatur – vor allem Kinderliteratur – widmen will.
Alternative Realitäten schaffen
Ganz bewusst haben sich die Autor_Innen gegen die Nacherzählung von und den Umgang mit diskriminierenden Situationen entschieden. Sie wollten diese nicht reproduzieren und ein Buch gestalten, in dem Kinder in ihrer Unterschiedlichkeit akzeptiert und wertgeschätzt werden. Damit wollen sie ihre Leser_Innen ermutigen, sich selbst ein positives Umfeld zu schaffen (Zeidler 2010, S. 16). Entsprechend richtet sich die Erzählung auf Prozesse innerhalb des Freund_Innenkreises und der Familien der Kinder. Erzählt wird der Alltag der Freund_Innen innerhalb ihrer Gruppe und in dem, was sie erleben, denken und fühlen.
Im ersten Kapitel stellen sich die fünf Protagonist_Innen vor, indem sie den Leser_Innen etwas über ihre Berufswünsche erzählen. Sie präsentieren eine phantasievolle Bandbreite an Zukunftsvisionen und Identifikationsvorgaben abseits von Lehrerin und Fussballprofi. Auch die Möglichkeit, sich überhaupt noch nicht für ein späteres Ziel und einen eventuellen Berufswunsch entscheiden zu müssen, wird aufgeführt. Bei allen folgenden Erlebnissen der Kinder ist der rote Faden des Buches die Freundschaft, die die Kinder teilen, von der alle profitieren, die sie bestärkt und mit der sie sich aufgehoben fühlen.
Dass Diskriminierungsverhältnisse nicht offen thematisiert werden, heißt nicht, dass der Alltag der Kinder unproblematisch dargestellt wird. Schwierige Lebenssituationen sind Teil von „Unsa Haus“, bei diesen haben sich die Autor_Innen allerdings auf Probleme innerhalb von Familienzusammenhängen konzentriert. So erleben die Kinder schädigende Suchtstrukturen, den Auszug aus der elterlichen Wohnung oder sprechen über die Trennung der Eltern.
Kritisch lesen
Die Autor_Innen von „Unsa Haus“ arbeiten mit dem Stilmittel der Repräsentation, worin sich sowohl die Produktivität des Buches zeigt, wodurch aber auch Grenzen markiert werden.
Die Produktivität von „Unsa Haus“ zeigt sich in der Möglichkeit, Figuren zu erzählen, die sonst nicht vorkommen. In der Erzählung werden vermachtete gesellschaftliche Differenzkategorien möglichst vielfältig auf die fünf Protagonist_Innen verteilt. So wird es möglich, Identitäten zu repräsentieren, die sonst fehlen. Es gibt nur wenig bis gar keine deutschsprachige Kinderliteratur, in der die Hauptpersonen Schwarz/Jungs mit einer Vorliebe für Ballett und aufwendige Kleider/dick/Tomboys/of color sind. „Unsa Haus“ präsentiert von der Norm abweichende Identitäten als ehrliche Identifikationsalternative für diejenigen Leser_Innen, für die entsprechende Erzählungen eine überlebenswichtige Bedeutung haben können. Differenz wird hier als Normalität erzählt und nicht problematisiert.
Viele Erzählungen für Kinder und Jugendliche thematisieren gesellschaftliche Differenz als Konfliktursache, anhand derer Toleranz erlernt werden soll. Diese Erzählungen instrumentalisieren marginalisierte Positionen als Motor für die Entwicklung von Geschichten, richten sich aber in der Ansprache nach wie vor an diejenigen, die privilegiert sind und damit als eigentliche Subjekte der Erzählung angesprochen werden. Das Aufrufen marginalisierter Positionen und die Thematisierung von Differenz und Diskriminierung geschieht in vielen Kinderbüchern also im Sinne der Mehrheits-Subjekte. Damit werden hierarchische Blickrichtungen wiederholt, gängige Subjekt-Objekt-Beziehungen gestärkt und mehrheitskonforme Pseudo-Inklusionserzählungen reproduziert. Mit der in „Unsa Haus“ versuchten Repräsentation marginalisierter Identitäten wird hingegen ein emanzipatorischer Ansatz im Sinne der sonst nicht Gemeinten verfolgt.
Die Nebeneinanderreihung von Identifikationsmerkmalen, um möglichst breite Repräsentation sicher zu stellen, hat aber gleichzeitig den Effekt der Beschränkung. Die Autor_Innen stellen selbst fest, dass es schwierig war, „die verschiedenen Normierungen irgendwie [zu] verteilen“ (Zeidler 2010, S. 15) und dass ihnen nach wie vor Themen fehlen. Hier zeigt sich die Problematik identitär orientierter Repräsentationspolitiken. Je mehr verschiedene Merkmale den einzelnen Kindern zugeordnet werden und je verkörperter damit die repräsentierten Lebensrealitäten werden, umso mehr muss auch ausgelassen werden. Es ist unmöglich, jede einzelne Abweichung von der Norm aufzuführen, eine Festschreibung von Identitäten mit bestimmten Merkmalen wird immer den Ausschluss anderer Identitäten zur Folge haben.
Verschwimmende Ansprüche
Mit dem Versuch, die Figuren aus dem Leben zu greifen und möglichst realitätsnah darzustellen, wird im Kapitel über Alex auf aus meiner Sicht höchst problematische Weise gebrochen. In der WG, in die Alex aufgrund der Situation bei ihren Herkunftseltern zieht, wohnt eine Person mit grüner Haut (S. 42ff.). Dies wäre vielleicht in einer Science Fiction und/oder (durchgängig) kritisch verqueerten Geschichte eine produktive Strategie, um Sehgewohnheiten zu stören und mit dem „unmöglich Natürlichen“ zu arbeiten. Im Kontext von „Unsa Haus“ führt eine grüne Person die Darstellung unterschiedlicher realistischer Hautfarben ad absurdum. Die Darstellung von Lebensrealitäten, die sonst nicht gezeigt werden, gerät durch die Abbildung zusätzlicher fiktiver Subjektentwürfe in Gefahr, beliebig und ins Lächerliche gezogen zu werden. Mit der Einführung eines spielerischen und phantasierenden Umgangs mit „Hautfarbe“ entzieht sich die Geschichte der Verantwortung, rassistische Normalzustände als gewaltvoll mitzudenken. Das Negieren von Rassismen wird umso deutlicher, da die Geschichte ansonsten einen möglichst hohen Realitätsanspruch hat. „Unsa Haus“ versagt dabei, die dargestellten Kinder mit ihren unterschiedlichen Hautfarben auch als unterschiedlich von Rassismen und rassistischen Strukturen betroffene Personen zu denken. In dieser absurden Verhandlung von „Hautfarbe“ wird die Erzählung machtvermeidend und der utopische Anspruch wirkt entpolitisierend.
Das Problem, dass bei einer möglichst realistischen Darstellung marginalisierter Lebensrealitäten die Wirkmacht rassistischer Verhältnisse außer Acht gelassen wurde, wiederholt sich (nicht ganz so plakativ) in der Auslassung auch anderer Unterdrückungsmechanismen. Wie oben schon erwähnt handelt es sich hierbei um eine Strategie der Autor_Innen, die den erzählerischen Fokus auf innerfamiliäre Konflikte richten wollten. Das ist nachvollziehbar und wichtig, da innerfamiliäre Gewaltverhältnisse in Kinderliteratur selten verhandelt werden. Allerdings führt die Auslassung von „Konfrontationen von Außen“ (Zeidler 2010, S. 16) zu einer künstlichen Grenzziehung zwischen Konflikten, die sich entweder innerhalb oder außerhalb eines damit als sehr abgeschlossen konstruierten Familienverbundes auswirken.
Aber Trennungen von Bezugspersonen oder der thematisierte schädigende Alkoholkonsum sind Konflikte, deren Bezüge nicht an den Grenzen des Familiensystems enden. Und ebenso machen Unterdrückungsverhältnisse nicht an der Wohnungstür halt, sondern wirken strukturell auch auf Familienzusammenhänge ein. Die Konstruktion beschreibenswerter familieninterner und auslassungswürdiger -externer Konflikte in „Unsa Haus“ kann gegebenenfalls dazu führen, dass bestimmte gesellschaftliche Unterdrückungsverhältnisse nicht als Teil eines linken/progressiven/kritischen Familienzusammenhangs gedacht werden müssen: Hautfarbe oder Geschlecht spielen schließlich in unserer Familie keine Rolle.
Kinder sind allerdings immer mit den vorherrschenden gesellschaftlichen Strukturen konfrontiert und nicht nur in Situationen, in denen erwachsene Bezugspersonen die Wirkung dieser Konfrontationen wahrnehmen können.
Weiter denken
Die Autor_Innen betonen, dass häufig nicht die Kinder die Geschichten in „Unsa Haus“ als andere Erzählungen wahrgenommen haben, sondern dass von den Elter_n Kritik an oder Besorgnis über die Themenwahl geäußert wurde. So geben die Autor_Innen die Aussagen von Elter_n wieder, die sich selbst nicht als homofeindlich einstuften, schwule Väter allerdings nicht als kindgerechtes Thema verstünden (vgl. Zeidler 2010, S. 14). Diese Elter_nreaktion allein wäre schon eine vollwertige Legitimation für die Existenz des Buches. Die Autor_Innen legen Wert darauf, dass „Unsa Haus“ nicht für sich stehen soll, sondern als Anstoß für Kommunikation genommen werden muss. Die thematisierten Familienverhältnisse, Identitäten und Verhaltensweisen werfen sowohl für die lesenden Kinder als auch für ihre älteren Bezugspersonen Fragen auf, die häufig im Alltag von in bestimmten Zusammenhängen privilegierten Personen nicht diskutiert werden. Das Buch vermag damit auf Leerstellen hinzuweisen, bei denen es sich lohnt, sie gemeinsam zu füllen. „Unsa Haus“ kann ein Hilfsmittel für die kritische Betrachtung gesellschaftlicher Verhältnisse sein.
Schlüsse ziehen
„Unsa Haus“ präsentiert sich als ein Buch, das sehr viel will. Diverse Normen sollen aufgebrochen und Marginalisierungen repräsentiert werden. Die Autor_Innen finden es wichtig, Kindern intersektionale Erzählungen zu bieten, die sich nicht an einem einzigen gesellschaftlichen Differenzierungsmerkmal abarbeiten, wie sie in ihrem Konzept erläutern. Etwas holprig umgesetzt wurde dieser wichtige Ansatz, indem möglichst viele Differenzen auf wenige Hauptfiguren verteilt wurden. Zusätzlich ist die fiktive Differenz „grüne Haut“ Teil der Erzählung geworden, was im Kontext von „Unsa Haus“ Rassismen reproduziert.
Leider verbleibt die Vielschichtigkeit, mit der sich die einzelnen Protagonist_Innen präsentieren und die ja auch das alltägliche Erleben von Kindern wiedergeben kann, häufig auf der identitären, beschreibenden Ebene. „Unsa Haus“ hinterließ bei mir das Gefühl, ein Produkt in den Händen zu halten, das wirklich alles richtig machen wollte und dabei oft gar nicht mehr zum Erzählen kam. Die Folge ist, dass die Geschichte an vielen Stellen statisch bleibt, es häufig nicht schafft, spannende Konflikte aufzubauen und die Phantasie anzuregen, sondern eher eine Bestandsaufnahme von der Norm abweichender Lebensrealitäten bietet.
Diese Einschätzung soll abschließend kritisch kontextualisiert werden. „Unsa Haus“ war die erste Veröffentlichung des Anti-Discrimination Future Projects. Die Autor_Innen sehen das Buch selbst als projekthaften Versuch, der herkömmlichen Kinderliteratur auf verschiedenen Ebenen kritisch etwas entgegenzusetzen (vgl. Zeidler 2010). „Unsa Haus“ ist also ein Buch, das nicht nur viel bieten möchte, sondern von dem auch viel erwartet wird. Das Buch soll das erste von vielen sein, in denen andere Geschichten erzählt und damit auch andere Fokusse gesetzt werden können.
„Unsa Haus“ wird von Seiten des Verlages ab 5 Jahren empfohlen, die Autor_Innen erzählen, dass teilweise schon Kinder ab 3 etwas mit den Erzählungen anfangen können (Zeidler 2010, S. 14). Das Buch ist darüber hinaus sicherlich auch interessant für Erwachsene mit Verantwortung für Kinder. Ich halte es allerdings wie bei vielen Büchern auch hier für wichtig, die Erzählungen kritisch zu begleiten und Diskussionen genügend Raum zu lassen.
Diese Rezension stammt von Katja Musafiri von der Seite www.kritisch-lesen.de