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Alle gegen Esra

Die Autorin Aygen-Sibel Çelik wurde 1969 in Istanbul geboren und lebt seit ihrem zweiten Lebensjahr in Deutschland. Bis sie anfing, selbst Kinder- und Jugendbücher zu schreiben, verfasste sie zahlreiche Artikel über die Darstellung des Fremden in der Kinder- und Jugendliteratur. Mit ihrem Buch „Alle gegen Esra“ aus dem Jahr 2010 thematisiert sie das aktuelle Problem „Mobbing in der Grundschule“.

Die Handlung spielt in einer Klasse 3b einer Grundschule. Die Hauptperson Esra ist türkischer Abstammung, sitzt in der ersten Szene alleine, weint und wird ausgegrenzt. Sie nimmt nicht an Ausflügen ihrer Klasse teil und wird wegen ihres komischen Verhaltens von ihren Klassenkameraden gemobbt. In ihrer Klasse und auch bei Lehrern und Eltern der Schüler werden Vorurteile wie „Die stinkt doch“, „türkische Mädchen werden in der Türkei unterdrückt, sind vermummt und dürfen auch hier in Deutschland dies und jenes nicht tun“ laut – das Mädchen wird bloßgestellt und gehänselt. Doch der Grund für ihr Verhalten bleibt dem Leser vorerst verborgen.

Eines Tages entdeckt ein anderes türkisches Mädchen aus ihrer Klasse Esras Geheimnis. Zentral wird hierbei die Frage, wie sie mit diesem Wissen umgehen soll. Die Autorin fragt den Leser „Was hättest du getan?“ und schlägt zwei Lösungsvorschläge für das Problem vor. Entweder wird das Geheimnis offenbart oder das türkische Mädchen freundet sich mit Esra an und hält zu ihr. Beide Textvarianten enthüllen Esras Geheimnis.

Zunächst wird beim Leser der Eindruck erweckt, dass hier Konflikte durch traditionelles konservatives Verhalten nicht westlich geprägter Familien entstehen („es liegt an der anderen Kultur“). Sie widersprechen den Erwartungen der deutschen Mehrheitsgesellschaft („Hier ist Deutschland und die müssen sich anpassen, wenn sie hierbleiben wollen“). Es stellt sich aber heraus, dass Konflikte durch Voreingenommenheit und vorschnelles Urteil über das Nichtbekannte entstehen. Die Emotionen wie Angst, Wut und Mut der Personen werden lebensnah, realistisch und für den Leser nachvollziehbar dargestellt.

Die Autorin verwendet kurze, für Grundschulkinder leicht verständliche Sätze. Für die Darstellung des Alltagslebens einer mehrsprachigen Familie baut sie türkischsprachige Dialoge ein. Dies erschwert nicht das Verständnis für die deutschsprachigen Leser, da sie in darauffolgenden Sätzen den Dialog auf Deutsch resümiert.

Das Kinderbuch „Alle gegen Esra“ zeigt sehr lebhaft den inneren Konflikt eines verängstigten und ausgegrenzten Mädchens und das von Vorurteilen geprägten Verhalten der Lehrer, Eltern und Mitschüler gegenüber dem Nichtbekannten. Der Leser wird den inneren Kampf mitkämpfen oder zumindest verstehen wollen.

Das Buch wird die Leser ansprechen, die Gefallen am Mitfühlen und Einfühlen in seelische und gesellschaftliche Konflikte finden und die Spaß daran haben, an einer spannenden Diskussion der beiden Lösungsvorschläge mitzuwirken. Ich konnte mich gut in die Hauptperson hineinversetzen und die Konflikte nachvollziehen – und das ist, was für mich ein gutes Buch ausmacht: es regt zum Mit- und Nachdenken an.

Das Kinderbuch ist aus der Sicht der rassistisch ausgegrenzten Familie geschrieben, was als Perspektive schon einmal eine Seltenheit ist. Die katastrophalen Lebensverhältnisse werden für erwachsene und kindlich Leser*innen erträglich durch die Vernunft, Menschlichkeit und den Galgenhumor, den sich die Protagonisten/innen bewahrt haben und der ihnen sogar eine gewisse Überlegenheit verleiht. Rassismus wird nicht erklärt, aber er wird ad absurdum geführt. Es wird deutlich, dass er den Hirnen der rassistisch denkenden Menschen entspringt und nicht durch Eigenschaften der von Rassismus Betroffenen ausgelöst wird. Dieses Buch hilft Kindern und Eltern Position zu beziehen auch innerhalb aktueller Diskurse über Flucht und Migration.

Eine Rezension von Ferhan Isfen, ehrenamtliche Mitarbeiterin beim Verband binationaler Familien und Partnerschaften.in Bonn